#Tag 8
ABSCHIEDSBRIEF
Liebe Bulimie,
will ich dich so nennen? Liebgewonnen warst du mir ja schon. Begleitest mich nun schon mehr als 20 Jahre. Hast dich in einer Zeit in mein Leben geschlichen in der ich gerade dabei war die Welt zu entdecken und mich darauf gefreut habe erwachsen zu werden. Hast an meiner Seite gestanden, mir Trost gespendet, immer wenn ich traurig war, mich einsam und unverstanden gefühlt habe. Du hast mich wortlos verstanden, du hast mir die Aufmerksamkeit geschenkt die ich mir von meinen Freundinnen gewünscht habe. Du hast mich von der Magersucht befreit, versprachst mir alles essen zu dürfen und dennoch schlank zu bleiben. Perfekt, denn ich esse für mein Leben gern. Jedoch wolltest du immer mehr. Ich konnte immer weniger die Gefühle ohne dich aushalten. Durch dich lernte ich sie runterzuschlucken und auszukotzen. Kurzfristig eine Erleichterung* für mich. Dieser Zustand war nicht von ewiger Dauer.
Denn damals war ich noch sehr jung und konnte mich von den Fress-und Kotzanfällen schnell erholen.
Mit der Zeit warst du nicht mehr mein Seelentröster. Du wurdest zu meinem größten, inneren und gierigem Monster. Hast das Ruder meiner Kontrolle übernommen und mich in Fesseln gelegt. Von nun an hast du bestimmt was und wann ich esse. Tag für Tag einkaufen-kochen- fressen-kotzen-ausruhen-Tatort reinigen-erholen. Mehr und mehr bestimmst du mein Leben. Ich schaue mir dabei zu wie ich mich mehr und mehr verliere. Schaue mir dabei zu wie ich mich selbst ausgrenze, Verabredungen absage, zombiehaft an Feiern teilnehme.
Ich verbringe die meiste Zeit allein mit dir. Auch in Beziehungen hast du großes Mitspracherecht, lässt eine Seite in mir erscheinen, die mich unausstehlich und unsympathisch werden lässt. Ich werde gemein und verletzend meinem Gegenüber, nur um den Druck abzubauen und in Ruhe dem inneren Drang nachzugehen.
All das Geld, das schöne Essen, all die quälenden Stunden nach dem Essanfall um alles auskotzen zu müssen, oft die Angst dabei zu sterben.
Durch deinen Komplizen, den Alkohol, hattest du später noch leichteres Spiel. Er legte mir einen Schleier um meine Gedanken. Benebelt mein Gehirn. Packt alles in Watte und lässt es nicht so schlimm erscheinen und meine Bedenken verschwinden. Oberflächlich.
Nach 20 Jahren Beziehung zu dir zeigen sich mehr und mehr körperliche Folgen unserer 3er Beziehung. Die Liste ist lang. Die Scham darüber sitzt tief.
Ich finde, diese Rechnung geht nicht mehr auf. Seit bald einem Jahr lebe ich nun frei vom Alkohol, ich verachte ihn. 20 Jahre sind genug.
Mein Verstand ist wach und klar. Fakt ist, ich nehme die Zügel ab sofort in die Hand. Ich habe mich von deinen Fesseln befreit.
Es ist nun an der Zeit unsere Beziehung zu beenden, du passt auch nicht mehr in mein Leben. Du hast mich geprägt. Du warst mir früher ein treuer Begleiter. Wir haben uns verändert und wenn man sich in verschiedene Richtungen bewegt sollte man das akzeptieren und sich trennen. Vernünftig, wie Erwachsen. Ich trenne mich nicht im Streit und Groll. Du hast mich zu dem gemacht was ich jetzt bin.
Hiermit beende ich unsere Beziehung und distanziere mich von dir.
Ich werde von nun an ohne dich leben.
Lebe wohl Bulimie!