Mehr als die Hälfte meines Lebens süchtig
Nach außen hin bin ich für viele das, was man eine Powerfrau nennt. Engagiert, beruflich und finanziell selbstständig und unabhängig, sportlich, einige sagen gutaussehend, besonders für mein „Alter“…wenn ich solche Komplimente in der Vergangenheit gehört habe, war meine normale Denk-Reaktion: „es tut mir wirklich leid, dass du so von mir denkst. Das alles stimmt nämlich gar nicht. Ich mache euch die ganze Zeit nur etwas vor. Mein Leben – nein, ICH – bin eine einzige, große Lüge.“
Ich bin schlecht in Jahreszahlen. Die Erinnerung ist manchmal wirr, was mitunter an dem jahrzehntelangen Alkoholkonsum liegen könnte. Oder an dem jahrzehntelangen Erbrechen. Oder an beidem. Denn dieses ungeliebte Zwillingspaar begleitete mich 25 Jahre lang -vielleicht auch länger, denn wie schon erwähnt – ich bin schlecht in Jahreszahlen…
Wenn ich darüber nachdenke, wann meine Essstörung angefangen hat, dann stelle ich sehr schnell fest: es gab nicht den einen Tag X. Es gab viele Tage und Situationen, die ich mit einem X versehen kann. Aber die Entwicklung meiner Geschichte hat sich schon sehr früh, in ganz jungen Jahren abgezeichnet, in eher kleinen punktuellen Situationen, und das macht im Nachhinein sogar irgendwie und erschreckenderweise Sinn.
Ich erinnere mich an eine Kindheit, in der ich mich oft unwohl und traurig gefühlt habe. Als Kind lebt man ja nur diese eine Normalität und stellt absolut nichts in Frage – erst Recht nicht die eigenen Eltern, die wir einfach nur bedingungslos lieben. Ich möchte an der Stelle, und selber als Mutter sagen: ich bin kein Fan (mehr) davon zu sagen, dass es mir ergangen ist, wie es mir ergangen ist, weil ich eine schlimme Kindheit hatte. Ich kann den Spruch ehrlich gesagt nicht mehr hören. Und „schlimm“ ist immer relativ. Aber natürlich ist unsere Vergangenheit, speziell unsere Kindheit und wie wir sie erleben elementar für die Person, zu der wir werden.
Ich bin nichtsdestotrotz eine große Verfechterin von Selbstverantwortung geworden. Und Vergebung. Auch wenn es mich einige Therapiestunden und Jahrzehnte an Lebenszeit gekostet hat, um dorthin zu kommen.
Ich komme aus einer sehr konservativ christlichen Familie. Als ich 6 Jahre alt war, kam mein Opa – ein sehr angesehener Ältester in seiner damaligen Gemeinde -als Nikolaus verkleidet zu den Kindern meiner Familie, um jedem Kind mitzuteilen, ob es artig oder böse gewesen ist. Ich weiß noch genau wie nervös ich in der Reihe gewartet habe, nichts gutes ahnend.
Mir sagte der Nikolaus, vor versammelter Mannschaft, dass ich mal daran arbeiten sollte nicht mehr soviel zu „heulen“. Das wäre doch wirklich nicht schön für meine Eltern!
Ich erinnere mich heute noch daran wie schuldig ich mich gefühlt habe und gedacht habe: du darfst nicht mehr weinen! Du bist ein schlechtes Mädchen!
Das ist nur eine Momentaufnahme, und wäre in einer anderen Geschichte, in einem anderen Kontext einfach nur eine Anekdote aus einer Kindheit. Aber ich habe gelernt, dass solche Erinnerungen, auch wenn sie noch so unwichtig erscheinen, Meilensteine in der eigenen Geschichte darstellen.
Ich war bis zur vierten Klasse Bettnässerin, ebenfalls ein Umstand der mich hat „falsch“ fühlen lassen. Wie gerne würde ich dem Mädchen von damals sagen, dass es für kein Kind gut ist, wenn die familiäre Atmosphäre von Alkohol, Medikamenten, Magersucht und Missbrauch geprägt ist. Und dass der Grund für meine tiefsitzende Traurigkeit durchaus berechtigt war. Das habe ich erst Jahrzehnte später anzunehmen und zu verstehen gelernt.
Woran ich mich besonders gut erinnere war das Gefühl von: ich bin zu dick. Meine ersten Diätversuche habe ich in der Grundschule gestartet. Damals noch erfolglos. Ich habe mir Diätzeitschriften von meiner Mutter geklaut, vorzugsweise die, deren Namen mit „B“ anfingen (gab es überhaupt andere?!), und wo mir blonde, hübsche Frauen entgegenlächelten. Ich versuchte zu verstehen, wie man das erreichen kann dass man so glücklich lächelt wie auf den Titelblättern…hab es anscheinend nicht richtig gecheckt, denn jede Diät war 1. für mein Alter nur bedingt durchführbar, und 2. jedes Mal erfolglos.
Meine beste Freundin damals war super dünn. Und super stolz drauf. Es gab aber auch diverse Male die ich mitbekommen habe, wo man ihr suggeriert hat wie stolz sie darauf sein kann!
Es gab eine Situation in der Klasse, wo sich alle Grundschüler auf die Waage stellen sollten, und hinterher über die Zahlen gesprochen wurde. Ich glaube es hatte was mit Mathe zu tun. Heute schlage ich aus pädagogischer Sicht die Hände über dem Kopf zusammen… das war ein weiteres X. Denn meine Zahl lag 6kg über der meiner damaligen besten Freundin. Ich weiß noch wie unsere Grundschullehrerin damals – für meine Begriffe fast bewundernd – darüber schwadroniert hat, wie erstaunlich es doch ist, dass man von Natur aus so schlank sein kann. Meine beste Freundin war stolz wie Oskar. Ich geknickt hoch zehn. Wir waren neun Jahre alt. Ich war absolut normalgewichtig. Und fing an, mich im Spiegel als ein unförmiges Etwas zu betrachten.
In der Zeit hatte ich die ersten Essanfälle, wo ich mir am Kiosk nebenan Unmengen an Süßigkeiten gekauft habe, von meinem mühsam zusammengekratzten Taschengeld. Um sie dann heimlich in einem Versteck zu verschlingen. Damals hatte ich noch nicht die „Lösung“ mit dem Kotzen, und es hat auch noch nicht so oft stattgefunden, als dass diese Anfälle im wahrsten Sinne des Wortes ins Gewicht geschlagen hätten. Ich war ein nach außen hin unauffälliges, immer noch normalgewichtiges Kind. Hab zwar ein bisschen lange Nachts ins Bett gemacht, und ein bisschen viel und traurig in den Tag hineingeträumt… Aber wie sagt man so schön: außer Spesen nichts gewesen.
Meine damalige Lieblingsserie war Knight Rider, mit David Hasselhoff in der Hauptrolle (in den ich – man glaubt es kaum – UNGLAUBLICH verknallt war). Es gab eine Folge, da spielte eine (natürlich schlanke) Frau die Hauptrolle, die den Bösewichten mit ihren Karatetricks so richtig gezeigt hat wo der Hammer hängt. Das fand ich toll. Das wollte ich auch können.
Ich habe also mit 10 Jahre angefangen Kampfsport zu betreiben, und entwickelte einen völlig neuen Ehrgeiz. Ich wurde innerhalb von ein paar Jahren zur Leistungssportlerin.
Heute weiß ich, dass der Sport mich damals hat überleben lassen. Ich wurde sehr erfolgreich, und habe mich – zumindest optisch – von dem traurigen Mädchen in eine selbstbewusste, taffe Jugendliche gewandelt. Essanfälle hatte ich immer noch. Zwar nur selten, und wenn dann war es völlig ok, ich hab ja sieben mal die Woche trainiert, war im Nationalkader, habe unzählige internationale Wettkämpfe gewonnen… also kein Grund, sich irgendeinem Problem zu stellen.
In dieser Zeit habe ich gelernt, wie ich auf andere wirken kann (sehr positiv!), wenn ich mich nur genug zusammenreiße und überdurchschnittlich gute Leistungen erbringe. Ich habe die Macht der Selbst-Präsentation kennengelernt und mich ab da vom Außen lenken und füllen lassen. Ich fing an, meinem Leben die perfekte Fassade zu geben.
Ich erlebte weitere von unzähligen X-Situationen. Zum Beispiel die eine Situation, in der der Nationaltrainer uns Athleten – egal welchen Alters und Geschlechtes – auf eine Waage hat stellen lassen, um unsere Gewichte öffentlich zu kommentieren und zu diskutieren. Ich hatte zwischendurch Essanfälle, aber dank der ganzen Bewegung bewegte ich mich absolut im Normalbereich. Trotzdem musste der Trainer einen Kommentar dazu abgeben, dass ich durchaus 2-3 kg abnehmen könnte. Tadelnd meinte er, man könnte meine Leistungsfähigkeit bestimmt nochmal steigern wenn man hieran arbeiten würde. Ich habe das Ganze nach außen hin cool und selbstbewusst weggelächelt. In Wirklichkeit schämte ich mich in Grund und Boden, und der Gedanke verhärtete sich, dass an meiner Figur – und damit an meiner ganzen Person – etwas nicht stimmte.
Als ich 16 und auf dem Höhepunkt meiner damaligen sportlichen Karriere war, habe ich mich verletzt. Ich musste von jetzt auf gleich für Monate mit dem Training aufhören, was mich in ein tiefes Loch hat fallen lassen.
Der Sport war mein Leben, mein Ausgleich, ich konnte vor meinem Zuhause fliehen und bekam die Anerkennung, die ich mir selber nicht geben konnte. Der Sport hat mich ausgefüllt, und als er wegbrach wurde erst klar, wie leer ich innerlich doch eigentlich war.
Ich habe mir das damals schöngeredet, nach dem Motto: ich musste jahrelang auf alles verzichten was meine Freundinnen am WE so erlebt haben, endlich habe ich die Gelegenheit alles nachzuholen.
Und wie ich alles nachgeholt habe.
Innerhalb von kürzester Zeit probierte ich alles an Drogen aus, was mir in die Finger kam, ich trank Unmengen von Alkohol (da war ich ziemlich gut drin, ich vertrug erstaunlich viel), und feierte bis zum Umfallen. Ziemlich schnell merkte ich, dass dieses neue Leben nicht nur „Spaß machte“, sondern auch den schönen Nebeneffekt hatte, dass ich rapide an Gewicht verlor. Endlich! Ich bekam dafür Komplimente. So konnte man sich also auch selbst präsentieren…ich fing an die Gewichtsabnahme zu forcieren. Was zur Folge hatte, dass ich innerhalb eines Jahres 20kg abnahm – von einer ursprünglich absolut sportlichen und normalgewichtigen Figur. Ich freute mich über die irgendwann nicht mehr bewundernden, sondern inzwischen besorgten Blicke meiner Mitmenschen und dachte mir: die sind doch eigentlich alle nur neidisch.
Nachdem ich es geschafft hatte, mich ein Jahr lang nur von einem halben Apfel und einem halben Brötchen täglich zu ernähren- ich nenne es im Nachhinein eine meiner Magersuchts-Phasen – merkte ich, dass mein Körper das nicht mehr durchhielt. Eines Tages wurden aus einem halben Brötchen dann drei Brötchen und ich bekam Panik. Einer dieser oben genannten X Tage war der, an dem ich mir das erste Mal bewusst vornahm das Gegessene wieder auszukotzen. War am Anfang gar nicht einfach, aber es hat geklappt und ich war beruhigt. Hätte ich damals doch nur geahnt, dass dies der Anfang einer lebensbedrohlichen Kariere werden würde…ich muss so 17 Jahre alt gewesen sein.
Da die Magersucht anscheinend nicht zu mir passte, suchte ich mir die passende Lösung für mich. Ab diesem Tag schlich sich das Kotzen immer mehr in meinen Alltag, als wunderbare Unterstützung meines damaligen Lebenskonzeptes. Noch explosiver wurde die Sache, als ich nach dem Kotzen anfing zu trinken. Vorzugsweise Bier. Es gab mir ein wohliges Gefühl und zusätzlich Betäubung von meinem elenden Dasein. Ich merkte aber mit der Zeit, dass es ganz schön anstrengend wurde, und eigentlich doch nicht alles so rosig war. Erste depressive Verstimmungen machten sich bemerkbar, die ich aber noch ganz wunderbar verdrängen konnte. Es gab Tage, nein Wochen, in denen ich bis zu 7 oder 8 mal täglich kotzte, um mir mein Dasein am Abend dann erträglich zu trinken. Es gab Monate, in denen ich Tausende von Euros für Essen ausgab, das ich im Grunde nur im Klo versenkte. Meine Sucht wurde nicht nur körperlich und mental anstrengend, meine finanzielle Situation macht mir zwischenzeitlich ebenfalls zu schaffen.
Irgendwann in meinen frühen 20-gern konnte ich einfach nicht mehr. Ich war inzwischen Studentin (natürlich eine überdurchschnittlich gute…wie das möglich war? Keine Ahnung!) Aber in meinem Inneren war ich todunglücklich. Ich entschloss mich nach langem Ringen für meine erste ambulante Therapie. Diverse Ärzte hatten mir eigentlich aufgrund meines niedrigen Gewichtes zu einer stationären Therapie geraten, aber das hätte geheißen, dass mein Umfeld alles mitbekommen hätte. Ich habe mich so unglaublich geschämt und hatte Todesangst davor, dass meine Freunde und Familie davon erfahren würden, was mit mir los ist. Das hätte meine ganze mühsam aufgebaute Fassade zum Einstürzen gebracht, und es wäre nichts, ja wirklich gar nichts mehr von mir übriggeblieben. Lieber wäre ich gestorben.
Die Therapie war eine reine Verhaltenstherapie. Also ein Versuch, die Symptome in den Griff zu bekommen, ohne an die Wurzel zu gehen. Es hat ewig gedauert bis ich irgendwann so was wie Symptomfrei – allerdings weit entfernt von heil – war.
Ich lernte mit Anfang 20 meinen ersten richtigen Freund kennen. Das Gefühl des Verliebtseins half mir, über die Schwere der Gewichtszunahme, die ich während der Therapie erfuhr, hinwegzukommen. Gewichtszunahme heißt in dem Kontext: Erreichen eines Normalgewichtes! Und obwohl ich endlich wieder normalgewichtig war, musste ich mir in dieser Zeit viele verletzende und unsensible Kommentare meiner Mitmenschen anhören. Und die X-Liste wurde länger und länger.
Auch das damalige Verliebtsein war wieder nur ein Gefühl von außen, mit dem ich versucht habe meine innere Leere zu füllen. Das weiß ich heute.
Und Verliebtsein ist ja bekanntlich in der Regel nur von begrenzter Dauer, bevor sich der Alltag wieder einstellt, sich die Schmetterlinge beruhigen, und sich im besten Fall so etwas wie Liebe etabliert. Ob ich überhaupt dazu fähig gewesen wäre richtig zu lieben weiß ich nicht. Es war, als würde zwischen mir und meinen Gefühlen eine tonnenschwere Stahlmauer existieren. Ich wusste in der Theorie, dass da was war, denn jeder Mensch hat doch Gefühle! Aber ich FÜHLTE sie nicht!
Die Jahre vergingen, und das Unglück zog wie ein schweres Sommergewitter erneut über mein Gemüt. Der Teufelskreis begann von neuem. Ich wurde unglücklich in der Beziehung, ich fing erneut an zu hungern. Ich nahm ab, merkte dass ich nicht ewig hungern konnte, fing wieder an zu kotzen, um das Gewicht halten zu können.
Damals habe ich die „Bierdiät“ vor meinen Freundinnen etabliert, meine Güte wie lustig das alle fanden. Statt zu essen (und zu kotzen) abends ein paar Bier auf nüchternem Magen. Das war eine nette und vor allem gesellschaftstaugliche Abwechslung. So konnte ich mich einigermaßen ertragen und mein Gewicht halten.
Dann die Erkenntnis: so kannst du nicht weitermachen, du wirst nicht überleben. Die nächste Therapie, die nächste symptomlose Zeit, aber wieder keine Heilung. Die erste Beziehung ging in die Brüche, ich lernte nahtlos den nächsten Mann kennen, bei dem war ich mir sicher: mit dem hab ich endlich mein Glück gefunden und ich kann endlich normal leben. Ich war 27 und stand nach außen in der Blüte meines Lebens. Ich hatte mein Studium in Rekordzeit und mit super Noten abgeschlossen, ein super Job kam mir zugeflogen. Ich war sportlich, attraktiv, nichts deutete darauf hin was sich in meinen eigenen vier Wänden regelmäßig abspielte.
Als neuen Partner und späteren Ehemann hatte ich mir unbewusst jemanden gesucht, der ein ähnliches Alkoholthema wie ich hatte, der umgeben war von einem Freundeskreis, in dem Unmengen an Alkohol an der Tagesordnung stand, das wurde mir erst viel später klar. Wunderbar, um nicht aufzufallen.
Ich hatte es aber wohl gespürt, denn in mir wuchs der unbändige Wunsch ein Kind zu bekommen. Ich dachte, dass ein Kind unsere Beziehung in eine gesunde Richtung lenken, und meinem Leben endlich den Schubs geben konnte, den ich brauchte. Denn ich wollte gesund sein, und ich wollte leben. Ich wusste nur nicht wie das ging.
Der nächste Hoffnungsschimmer, ich war 30 und wurde schwanger. Ich dachte mit dem Willen, dem Kind ein gutes Vorbild sein zu wollen, es besser machen zu wollen, ließe sich alles schaffen.
Tja, Spoileralarm: Das war leider ein Irrglaube.
Ich habe es lange Zeit geschafft nicht zu trinken und mich einigermaßen gesund zu ernähren. Die Zeit der Schwangerschaft und die Zeit danach waren allerdings gefühlsmäßig sehr dunkel. Ich war wieder für einige Zeit „symptomfrei“, nach außen hin funktionierte ich, nahm nach der Geburt schnell ab, hörte immer wieder dass ich besser aussehen würde als vorher (was solche Kommentare wieder für ein Gedankenkino anwarfen..), also alles tippitoppi!
Aber mein Innerstes war schwarz. Ich hatte ein gesundes Kind, für meine Geschichte nicht selbstverständlich. Und ich konnte mich einfach nicht richtig freuen, das Leben war einfach nur anstrengend. Was meinem schlechten Gewissen, nicht richtig zu sein, nur wieder neues Futter gab. Man hat sich doch zu freuen wenn ein Baby kommt, immerhin berichten Menschen doch immer wieder davon, dass sie von jetzt auf gleich die innigsten Gefühle ever spüren. Aber auch hier machte sich bemerkbar, dass ich nicht richtig spüren konnte…wieso klappte das mit der Liebe bei allen anderen, aber mir nicht?
Da ich ein Freund von Spoiler Alarmen bin: ich liebe meinen Sohn heute über alles. Ich habe gelernt, dass es durchaus auch andere Mütter gab, bei denen die Liebe erstmal wachsen musste…
Für mich bedeutet das damals einfach nur wieder Futter für mein inzwischen bis ins unermesslich gewachsene Schuld- und Schamgefühl. Und wieder das alte Muster, wieder die einzige Strategie, die mir half um zu überleben. Ich fing erst an zu hungern. Dann kam das Kotzen hinzu. Und der gute alte und treueste Begleiter, für den man sich in unserer Gesellschaft ja niemals rechtfertigen muss: der Alkohol. Man muss sich nur mit den richtigen Menschen umgeben, damit man nicht auffällt. Nun kam das schlechte Gewissen meinem Sohn gegenüber hinzu. Es war ein Kraftakt, ihn aus meinem eigenen Elend herauszuhalten.
Da mein damaliger Mann nie so sehr den Wunsch wie ich verspürte, irgendetwas an unserem Leben ändern zu wollen (insbesondere die Trinkerei und die Parties), kam was kommen musste: die Ehe ging in die Brüche.
Bzw habe ich jahrelang versucht aus dieser Beziehung auszubrechen. Das habe ich nur geschafft, in dem ich eine sehr toxische Beziehung zu einem ebenfalls verheirateten Mann anfing. So furchtbar sich das aus heutiger Sicht anhört: ich habe ihn damals gebraucht, um mich aus meiner alten Beziehung zu befreien. Im Nachhinein bin ich froh, dass dieser andere Mann bei seiner Frau geblieben ist, und die Beziehung, die ebenfalls von Drogen, Alkohol, und Sex geprägt war, nach 1,5 Jahren ein Ende fand. In dem Moment war es aber nur ein weiterer Schmerz, der meiner Sucht weitere Nahrung gegeben hat.
Es folgte eine weitere kurze Affäre, ebenfalls mit einem verheirateten Mann, der sich unsterblich in mich verliebt hatte. Ich konnte und wollte keine Beziehung, ließ das Ganze aber ein paar Wochen so laufen…mein Innerstes war tot, ob er da war oder nicht: ich fühlte nichts, außer vielleicht ab und zu etwas Schmerz. Aber eigentlich war da gar nichts.
Ein weiteres Drama geschah: der Mann brachte sich um, hinterließ einen Abschiedsbrief in dem er schrieb, wie sehr er mich geliebt hätte, dass er seine Frau für mich verlassen hätte, usw.
Ich sah die Dramatik. Ich war fassungslos. Und gleichzeitig fühlte ich…wieder nichts. Bis auf ein neues Schuldgefühl: durch mein verkorkstes Leben habe ich jemand anderen in den Abgrund gerissen. Ich stand wie ohnmächtig neben mir und sah mich selber am Abgrund stehen.
Mit Mitte 30, diverse Antidepressiva Versuche später, und immer noch schön heimlich kotzend und saufend habe ich verstanden: meine Lösungsansätze funktionieren nicht. Ich war absolut am Ende. Hätte ich meinen Sohn nicht gehabt, ich hätte keinen Sinn mehr in meinem Leben gesehen. Aber ich wollte nicht aufgeben, für ihn! Es musste doch noch etwas anderes geben. Immerhin atmete ich noch.
ich war ursprünglich in einem sehr christlich konservativen Haushalt aufgewachsen, und nach Jahrzehnten ohne Kirche, und nach Jahren eines sehr unchristlichen Lebensstils kam der Gedanke in meinen Kopf, mir eine neue Kirchengemeinde zu suchen. Nicht so konservativ, Ein Kozept, das zu mir passte. Ich habe das meinem Umfeld damals so erklärt, dass ich meinem Sohn den Zugang zu Gott verschaffen möchte. Heute weiß ich, dass Gott ganz klar zu mir gesprochen hat. Er hat mir die Antwort auf meine Frage nach dem „mehr“ gegeben. ICH wollte den Zugang zu ihm.
Und ich habe eine tolle Gemeinde, und auch meinen Glauben wiedergefunden. Hier habe ich das Gefühl, dass es ok ist unperfekt zu sein. Dass es ok ist Fragen zu stellen und Dinge im Glauben und aus der Bibel nicht zu verstehen. Dass es ok ist über Zweifel zu sprechen. Und dass Gott ein liebender Gott ist und keiner der bestraft. Selbst auf Menschen wie mich – heuchlerisch, betrügend, belügend, wie ich mich selber gesehen habe -wartet er mit offenen Armen.
Wo stehe ich jetzt, mit 43? Ich bin heute auf den Tag genau seit 483 Tagen nüchtern. Wahnsinn. Da alleine hat mein Leben schon maßgeblich verändert – aber ich bin immer noch auf der Reise! Ich wünschte, ich könnte sagen ich bin geheilt. Und frei. Aber das bin ich nicht. Noch nicht. Der nächste und allesentscheidende Schritt ist, die Bulimie – als letzten Rettungsanker – gehen zu lassen, und zu merken, dass ich ohne sie nicht untergehe. Sondern im Gegenteil: dass ich ohne sie sicherer und stärker denn je, dem Leben, mit all seinen Höhen und Tiefen begegnen kann.
Dieser Blog entsteht mit der wunderbaren Ellen. Wir haben uns bei OAmN kennengelernt, ein ganz wunderbares Selbsthilfeprogramm für Menschen, die den Wunsch haben, ein nüchternes und zufriedenes Leben zu führen. Wir haben festgestellt, dass wir beide an einem ähnlichen Punkt stehen – nüchtern, mit dem unbedingten Wunsch ganz frei zu werden, aber bis dato noch etwas unschlüssig, wie wir diesen letzten Schritt gehen können. Dass wir uns gefunden haben, war auf jeden Fall Teil eines höheren Plans.
Wir haben diesen Blog ins Leben gerufen, da wir unsere beiden Geschichten teilen möchten. Denn wir glauben, dass Dinge ans Licht gebracht werden müssen, damit sie ihren Schrecken verlieren, und selber zu Licht werden können. Und weil wir wissen, dass die Scham, und die daraus resultierende Heimlichtuerei, so viel Energie rauben, dass für Heilung keine Kraft mehr bleibt…also nehmen wir euch mit auf unsere Reise und hoffen, dass wir Betroffenen damit ein stückweit helfen können. Ihr – wir – fühlen uns als Betroffene oft einsam und alleine mit dieser Bürde. Aber das sind wir nicht. Und das ist eine ganz wichtige und heilsame Erkenntnis.